Rabindranath Tagore
Gedichte und Lieder
Ausgewählt und aus dem Bengalischen übertragen von Martin Kämpchen
Insel Verlag
Das Gedichtbändchen, das fast durchgängig Erstübersetzungen aus dem
Bengalischen enthält, führt zurück zu den Wurzeln der Philosophie
Tagores. Die Auswahl ist ein Querschnitt durch sein lyrisches Schaffen,
das bei uns bisher kaum bekannt ist. Der einfache, manchmal fast naive
Ton des Dichters findet seinen Weg direkt in das Herz des Lesers. Die
große Zahl Deutscher, die nach dem Ersten Weltkrieg in seine Lesesäle
strömten, hofften in seiner Weltsicht Trost zu finden. Seine Poesie
wendet sich liebevoll dem Alltäglichen zu und der Betrachtung der Natur,
die dem Einzelnen die Versicherung gibt, dass er Teil eines großen
Ganzen ist: „Dieser rotbraune Pfad am Rande des Dorfes – / wie er meine
Seele befreit! / Mit Staub geschmückt, fliegt sie / aufwärts! Unendlich
weit.“ Die Liebe zum Kleinen ist dabei der Wiederhall der göttlichen
Liebe, die in Tagores mystischem Blick einen Kreis um sein Schaffen
schlägt: „Ich tauche ein ins Meer der Vielfalt, / um den Juwel des
Jenseits zu fangen. / (…) / Ich sinke tief in den Nektar des Lebens; /
im Sterben werde ich die Ewigkeit gestalten.“
1913 wurde Tagore, der als Dichter und Philosoph, als Komponist, Musiker
und Maler hervortrat, als erstem nicht-westlichen Schriftsteller der
Nobelpreis für Literatur verliehen. In den Jahren zwischen den beiden
Weltkriegen wurde er in Deutschland außerordentlich populär. Neben
seiner in alle europäischen Sprachen übersetzten Prosa waren es vor
allem seine Vortragsreisen, die ihn zum Inbegriff der Gestalt des Weisen
aus dem Orient werden ließen. Tagores Botschaft an die Welt setzt sich
zusammen aus der asketischen, weltentsagenden Tradition Indiens und
einer Hinwendung zum Leben, zur Freiheit und zur Liebe. So ist seine
Literatur nicht nur für Europa ein kultureller Grenzgang, ein
Brückenschlag. Als Botschafter für den Weltfrieden, für
Gleichberechtigung unter den Völkern und für das bescheidene Glück des
Einzelnen, reiste er nach Nord- und Südamerika, China, Japan und Europa.
In Indien setzte er sich für ein neues Bildungssystem ein, das
Inspiration statt Auswendiglernen förderte und bemühte sich um die
Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen auf dem Land, was seine
ausgeprägt sozial-kämpferische Ader deutlich macht: „Glückloser redet
keiner mit dir, / kehrt sich jeder von dir ab, / weil alle fürchten – so
öffne dein Herz / und sprich mutig aus, was du denkst – allein.“
Der 150. Geburtstag des Dichters im Mai 2011 wird in Indien mit
zahlreichen Feiern begangen, die den geistigen Einfluss Tagores auf die
indische Gesellschaft bis heute verdeutlichen.
Den einfühlsam übersetzten Gedichten ist ein Nachwort und ein
Anmerkungsteil beigegeben, die beim Verständnis der kulturellen und
sprachlichen Einbettung der Poesie Tagores hilfreich sind.
(hkl)
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