Christian Clement (Hg.)
Rudolf Steiner. Schriften –
Kritische Ausgabe
Band 5: Schriften über Mystik,
Mysterienwesen und Religionsgeschichte
Frommann-Holzboog Verlag,
2013
Rudolf Steiner (1861-1925) spricht in der Einführung zum ersten der
beiden in diesem Buch abgedruckten Aufsätze von Zauberformeln,
die über Jahrhunderte hinweg ihre Wirksamkeit bewahren. Eine diese
Formeln, das delphische Erkenne dich selbst, hat für „Die Mystik
im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur
modernen Weltanschauung“ eine Schlüsselfunktion. Denn auch wenn man
alles Wissen einer Zeit in sich trägt, aber sich der Bedeutung der
Selbsterkenntnis nicht bewusst ist, „dann ist alles Wissen im höheren
Sinne ein blindes“, oder wie Johannes Tauler formuliert: „Wenn ich ein
König wäre, und wüsste es nicht, dann wäre ich kein König.“ Steiner
skizziert voll zustimmender Hingebung die Vorstellungswelt der
großen Mystiker von Meister Eckhart bis Angelus Silesius und findet in
der Gestalt des Kardinals Nikolaus von Kues einen, der sowohl die
Seelenstimmung der alten Mystik wie das neue naturwissenschaftliche
Denken in sich vereint.
Der zweite Text – „Das Christentum als mystische Tatsache und die
Mysterien des Altertums“ – geht wie der erste auf Vorträge zurück, die
Rudolf Steiner in seiner Berliner Zeit, zwischen 1897 und 1902, in der
dortigen theosophischen Bibliothek gehalten hat. Er betont nicht nur die
Mystik als Tatsache des Christentums, sondern fordert auch deren
mystische Schilderung. Zum Verständnis und zum Gebrauch der mystischen
Sprache dienen Steiner in Das Lazarus-Wunder die Mitteilungen des
Johannes über die Totenerweckung, ein Vorgang, der von unseren Sinnen
und unserem logischen Verstand kaum zu bewältigen ist oder das
Osiris-Sein in Die ägyptische Mysterienweisheit, das er letztlich
nur als eine vollkommenere Entwicklungsstufe des Mensch-Seins versteht.
Eine der großen Herausforderungen des Textes ist Steiners These der
Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Naturerkenntnis und mystischer
Erkenntnis. Darauf zielt sein Satz: „Wir verstehen die
Naturerkenntnisse, aber wir wissen noch nicht mit ihnen zu leben.“
In immer neuen Auflagen hat Steiner seine Monographien umgearbeitet und
ergänzt. Seine eigene intellektuelle Entwicklung, die daran ablesbar
wird, will diese Edition transparent machen. Die auf acht Bände
angelegte Kritische Ausgabe wird alle maßgeblichen, bis 1910
entstandenen Schriften Steiners umfassen. Dass sie mit den Schriften zur
Mystik startet, darf als Einladung an ein Publikum verstanden werden,
das nicht nur in der anthroposophischen Lehre des Autors zu Hause ist.
Ein gut 100-seitiger Stellenkommentar des Herausgebers und ein Vorwort
von Alois Maria Haas, das einen Schelldurchlauf durch die Geschichte der
wissenschaftlichen Mystik-Befassung gibt, begleiten die Texte. (ak)
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