Richard Powers
Die Wurzeln des Lebens
Aus dem amerikanischen von
Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
S.Fischer Verlag 2018
Ein Mädchen ist eins mit ihrer Waldumgebung. Anstatt zu sprechen
befreundet sich Patricia mit den Bäumen, ihren Früchten, Zweigen,
Blättern und Rinden, und ist ihnen näher als den sie umgebenden
Menschen. Aus diesem Setting erwächst, wie aus einem Samenkorn, dieser
Baumroman. Die spätere Forstwirtschaftlerin weiß schon als Kind um die
Geselligkeit der Bäume, lange bevor sie sie wissenschaftlich erforscht
hat und bevor sie dem „Wohlfahrtsstaat“ auf die Spur kommt, den sie
unterirdisch bilden. Ein weit ausgreifendes Netz von Wurzel- und
Pilzgeflechten dient als Leitungssystem für Informationen und
Hilfsleistungen, die das einzelne Baumindividuum mit dem Wohl und Wehe
des ganzen Waldes verbinden.
Ein anderes gleichfalls unsichtbares und potenziell weitläufiges
Netzwerk, das der symbiotischen Gemeinschaft der Bäume ähnelt, verbindet
Menschen, die im Begriff sind, sich in „grünere Wesen“ zu verwandeln.
Sie werden in eine Art seelische Verwandtschaft, in eine
Schicksalsgemeinschaft mit den Bäumen hineingerissen. Häufig sind es
Unfälle oder besondere Einschränkungen, die solche Verwandlung
befördern, wie bei Menschen, die, bewegungs- und sprachunfähig geworden,
ihre Verwandtschaft mit den Bäumen existentiell erleben oder die
buchstäblich sterben müssen, bevor sich ihnen die Welt der Bäume öffnet.
Nick dagegen, ein Künstler, dessen Bauminspiration in ununterbrochener
Linie auf den Urururgroßvater zurückgeht, taucht aus einer ganzen Flut
leidvoller Erfahrungen auf, indem er riesige himmelstürmende
Baumskulpturen schafft, als wolle er die Dichterworte, „Bäume sind der
Erde endloses Bemühen, mit dem lauschenden Himmel zu sprechen“, in ein
Bild fassen.
Es ist in diesem Buch die Rede von einer neuen Arche – einer für
Pflanzen, weil Noah sie vergessen hat, von Menschen, die ihren Gärten
und Wäldern Lieder vorsingen, von turmhohen, in Jahrhunderten
gewachsenen Mammutbäumen, die zu schade und zu unverstanden sind, um als
Bretter zu enden, von der gerupften Erde, die entlang der Highways
schamvoll hinter meilenlangen Korridoren aus Baumstatisten verborgen
wird, von Dow Chemical, Monsanto und Agent Orange und von einer guten
Handvoll Baumindividuen. Sie sind die Paten, die die Frauen und Männer
im Zentrum dieses Romans auf dem Weg in ihren „heiligen Alptraum“
begleiten – eine große, mit Wissenschaft und Mystik, mit Pathos und
Poesie erzählte Geschichte, die nicht nur in den kalifornischen
Waldbränden und den Kämpfen um den Hambacher Forst ihren aktuellen
Wirklichkeitstest erlebt. (ak)
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