Péter Nádas
Aufleuchtende Details
Memoiren eines Erzählers
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Rowohlt, 2017
Dinge und ihre Begriffe, die nicht zusammen zu finden
scheinen, bilden den Steinbruch, aus dem Nádas seine Aufleuchtende
Details fördert. Etwa das Wort Halbedelstein, dem er als Kind in der
Goldschmiedewerkstatt des Großvaters begegnet: warum halb, ist der
Stein vorn edel und hinten nicht? Seiner bildhaften, nach eigenem
Bekenntnis leicht autistischen Wahrnehmung der Welt, bereiten solche
Begriffe, deren suggestive Bilder er oft Jahre mit sich trägt, bevor er
sich mit ihrer tatsächlichen Bedeutung arrangieren kann, große
Schwierigkeiten. Der Großvater, der „sich durch sein ganzes versunkenes
Goldschmiedleben hindurchlächelte“, nimmt mit seiner schweigsamen Art
sowohl für das fünfjährige Kind wie für den heutigen Schriftsteller in
den Aufgeregtheiten des Nadás’schen Familienlebens eine Sonderstellung
ein.
Die Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, die ganze
„familiäre und menschliche Mehrzahl“, als Teile des eigenen Selbst
zu entschlüsseln und nach und nach zu verstehen, ist eines der großen
Projekte dieser Memoiren. Die widersprüchlichste und zugleich reichste
Figur im familiären Kosmos des Dichters ist die Frau des Großvaters. In
Budapest fremd und nie wirklich angekommen, bewahrt sie sich eine Art
ländlicher, ostjüdischer „Stammessprache“, die ihr Enkelkind zu
beständigem Widerspruch und ewiger Fragerei herausfordert. „Ach, hol mir
schon einen Tropfen Wasser, ich sterbe vor Durst. Einmal brachte ich ihr
wirklich nur einen Tropfen Wasser.“ Diese dramatischen, oft urkomischen
Gefechte, die der alten Frau großen Schmerz bereiteten und das Kind in
einer Mischung aus Neugier und Scham zurückließen, vermitteln dem
späteren Schriftsteller ein Gespür für die magische Kraft der Wörter und
für ein Wissen, das in seinem poetischen und ritualisierten
Ausdruck so gar nicht der fortschrittsgläubigen Logik seiner
intellektuellen Umgebung entsprach.
Die Frauen haben in Nádas‘ Lebensbericht ein merkbar größeres Gewicht,
so seine „verspielte, brutale und freimütige“ Mutter, die, wie Tante
Magda und ihrer beider Männer im kommunistischen Untergrund die
deutschen Besatzer und die ungarischen Pfeilkreuzler bekämpfte, die
Ärztin Elsa Baranyai, die mit Ohrfeigen heilen konnte, Yvette, seine
Lieblingscousine oder die schöne Lehrerin Tante Ica, bei der den
Schülern das Lernen schwer wurde. Lakonisch bemerkt er: „Nach zwei
verlorenen Weltkriegen, in der Nase den Leichengestank, wie hätte ich da
das Weibliche nicht als höherrangig ansehen sollen.“ Neben der Mutter
ist Tante Magda Ziel ähnlich heftiger Auseinandersetzungen, wie es die
Großmutter zehn Jahre früher war. Sie ist beides, große Dame und
hingebungsvolle Kommunistin, die nach Jahrzehnten des Kampfes in der
Illegalität das Fürchten von ihren eigenen Genossen lernen musste. Dass
sie dennoch treu zu ihrer Partei stand, trieb ihren Neffen zu maßlosen
Wutausbrüchen. Die nächtlichen Begegnungen, wenn der polternde
angetrunkene Jugendliche der schlaflosen, von den Gemordeten
heimgesuchten Tante begegnet und versucht, ihr die Parteitreue
auszutreiben, gehören in ihrer Härte und Hingabe zum schönsten dieser
unglaublich reichen Mitteilungen.
Am Anfang des monumentalen, 1278 Seiten langen Werkes
steht die Überschrift: Als ich an dem Mittwoch. Etwa 400 Seiten
später erfährt der Leser, was es damit auf sich hat. Es ist der Mittwoch
im Oktober 1942, an dem Péter Nádas geboren und das Ghetto von Misotsch
durch das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 ausgelöscht wird. Die
Schilderung des Massakers in dem ukrainischen Städtchen – Nádas ist auch
Fotograf – ist fotografisch genau und nur schwer erträglich. Was
zurückblieb nennt er eine „infernalische menschliche Emulsion“. Beide
Ereignisse, Geburt und Massenmord, sind miteinander verschränkt. Die
Gemordeten wie ihre Henker sind so der familiären und menschlichen
Mehrzahl des gerade Geborenen einverleibt.
Das Buch ist ein Plädoyer für den Widerspruch und entsprechend reich und
widersprüchlich ausgestattet sind seine Personen, einschließlich des
Autors selbst. Sein gewaltiger Umfang verdankt sich einer Art familiären
Vermächtnisses oder wie Nádas es fasst, dem Wunsch vor seinem Tod alles
zu dokumentieren, das dazu hilft, dass „Schein und Wirklichkeit,
Realität und Phantasie doch noch auseinandergehalten werden“. Es ist
auch ein Porträt von Budapest oder besser von Nádas‘ eigentlichem
Geburtsort, Pest, an dem zu Zeiten „hebräisch, deutsch, ungarisch,
slovakisch, griechisch, serbisch, armenisch, rumänisch, romani,
jiddisch, ruthenisch ...“ gesprochen wurde.
(ak)
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