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Lukrez

Über die Natur der Dinge

Übersetzt von Klaus Binder



Verlag Galiani, 2014


Ein Gedicht, ein Gesang, eine Universalgeschichte des Wissens, De rerum natura ist in seiner sprachlichen Schönheit aus dem antiken Latein in dieser Weise bisher nicht ins  Deutsche übertragen worden. Klaus Binder hat sich dieser Aufgabe angenommen und dabei das Versmaß außer Acht gelassen, um uns mit größerer Freiheit, einen durch Jahrtausende fremden Text, in seiner Wortgewandtheit und in seiner Poesie nahe zu bringen. Es ist, wie er sagt, ein Lesevorschlag, der die Fragen, Ecken und Kanten und auch die Begeisterung und den Wissensreichtum, auf den er gestoßen ist, in einem sehr umfangreichen Anmerkungsteil im Anschluss an den Text sichtbar macht.
Lukrez‘ Unternehmung in diesem Werk ist nichts geringeres, als die Lehre seines geistigen Lehrers Epikur zu entfalten, „der als Erster den Plan des Lebens entdeckte, den man nun Philosophie nennt; er der durch seine Kunst, durch sein Wissen unser Leben aus wildstürmenden Wellen, aus tiefer Dunkelheit gerettet hat, in windstilles Wasser geführt und in strahlendes Licht.“  
Auf den ersten Blick scheint Lukrez fast der Urvater der modernen europäischen Empirie zu sein. Bei der Lektüre seiner Theorie der Teilchen, die in ewiger Bewegung sich zu immer neuen Dingen zusammenschließen und sich je nach Beschaffenheit mit Erfolg reproduzieren, um schließlich von anderen Dingen verdrängt zu werden, sind wir gleichermaßen an Charles Darwin und Albert Einstein erinnert. Und doch erweist sich Lukrez‘ Ansatz, die Welt zu verstehen, als vollkommen anders. Als treuer Schüler des Philosophen Epikur ist für ihn Wissen nur durch die Sinne zu erfahren, wie es in der semantischen Beziehung zwischen den Wörtern "ertasten" und "verstehen" in dem auch heute geläufigen Wort "begreifen" zum Ausdruck kommt. Wo die moderne Wissenschaft sich fast ausschließlich auf Hilfsmittel stützt, um die Begrenzung der menschlichen Sinne mit Technischem zu überwinden, da legitimiert bei Lukrez die sinnliche Vorstellungskraft das generierte Wissen. So führt er um die Vorstellung von den Atomen erfahrbar zu machen, von den Urelementen oder den Keimen der Dinge, die sich ohne Unterlass zu Dingen zusammenfügen, sie zerfallen lassen und wieder neu hervorbringen, das Gleichnis der Sonnenstäubchen an: Die unergründbaren Bewegungen von sonst verborgenen Staubteilchen im leeren Raum, in einem durch das Fenster dringenden Sonnenstrahl sichtbar gemacht, ist eine Analogie, die auf den Wesenskern unserer Welt auf nahezu poetische Weise deutet.  
Sowohl die antiken Römer als auch später die Christen sahen in dem 100 v. Chr. geborenen Dichter ein Ärgernis. Die einen, da er die Notwendigkeit von religiöser Furcht und sakralem Opfer bestritt und auch Ruhm, Ehre und ihre Kriege anprangerte, die anderen sahen in ihm einen Atheisten, der sie selbst und ihr Religionssystem bedrohte.  
Der Naturglaube des römischen Dichters sprengte in seiner mystischen Dimension tatsächlich jegliche Religionszugehörigkeit. Da er den Menschen als Teil des Absoluten sieht, nicht getrennt oder als etwas anderes, sondern aus dem gleichen Stoff wie alles, versucht er das Absolute erfahrbar zu machen. Bei ihm sind der Körper, die Seele und die Sinne  aus eben jener gleichen Substanz: „Die Dinge sind es, die sich gegenseitig beleuchten.“
Der Lukrez zugeschriebene Atheismus, der, aus der Gewissheit der Vergänglichkeit von allem Lebendigen und Dinglichen, auch von der Seele spricht, verheißt aber demjenigen Erlösung und spirituellen Frieden, der weder von  Begehren noch von Angst geleitet wird: „Der Tod, darum ist uns nichts, geht nicht das Geringste uns an“.

Folgt man dem großartig übersetzten Werk und taucht ein in das Modell der wirbelnden Teilchen, das in absoluter Konsequenz vorgeführt wird, so offenbart sich ein Wesenskern, der auch in den Abweichungen zu unserem heutigen Wissen, in seinem eigenen Wissenssystem überzeugen kann oder aber eine ungewollte Komik erzeugt. Der wunderbar, durch ein Vorwort und eine Lesehilfe des Übersetzers, eingeführte Text lädt in dem auch äußerlich sehr schön gearbeiteten Band zu immer neuer, erkundender und genüsslicher Lektüre ein: „Lukrez lesen heißt, (wieder) lernen, sich solchem Taumel und Tanz zu überlassen.“ (hkl)

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Literatur in Berlin: www.literarisches-berlin.de  © 2008 yuba edition / Brigitte Pross-Klappoth (Berlin)
 Fotos © B.Pross-Klappoth (wenn nicht anders angegeben)
 Stand: 08. Juni 2015