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Lucius Burckhardt 

Landschaftstheoretische Aquarelle
und Spaziergangswissenschaft 

Herausgegeben von Noah Regenass, Markus Ritter, Martin Schmitz



Martin Schmitz  Verlag
, 2017    

Die begrifflichen Stolpersteine im Titel dieses Bandes - Landschaftstheoretische Aquarelle und Spaziergangswissenschaft – weisen auf die drei maßgeblichen Pfeiler der Burckhardtschen Arbeit hin: Kunst, Wissenschaft und, wenn auch unausgesprochen und oft unfreiwillig, Humor. Lucius Burckhardt (1925-2003) war Schweizer Soziologe und ab 1973 für gut zwei Jahrzehnte Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung an der Gesamthochschule in Kassel. Dass der Urbanismuskritiker der, allen Gesundheits- und Umweltgefährdungen spottenden Planung der autogerechten Stadt, das wissenschaftliche Spazierengehen entgegensetzt, scheint auf den ersten Blick nur frivol, erweist sich aber bei genauerem Nachspüren als durchaus folgerichtig. Burckhardts Ziel ist das konzentrierte und bewusste Wahrnehmen unserer Umwelt mit dem möglichen Ergebnis, das bloße Sehen zum Erkennen zu entwickeln. Dann stellen sich Fragen wie:  Wer plant die Planung? Warum ist Landschaft schön? Wo beginnt die Landschaft? Sind wir Teil der Landschaft?
Die überragende Rolle der Kunst in seiner Arbeit hat eine hermeneutisch-didaktische Dimension. Es gilt, den eingeübten Planungsdiskurs zu unterlaufen und Staunen zu erzeugen, denn so Burckhardt in einem dem Band vorangestellten Zitat: „Bestimmte Perspektiven kann man wohl nur durch Kunst vermitteln, da die Beschränkung des Blickes heute so weit verbreitet ist, dass die Leute kaum mehr die Distanz haben, sie aufzuheben. Das kann nur die Kunst vermitteln, ohne belehrend oder verletzend zu sein.
" Die Spaziergänge ähneln denn auch ethnographischen Feldforschungen, Lehrveranstaltungen im Freien oder Kunst-Happenings. Sie sind nicht nur Wissenschaft oder nur Kunst, sondern jeweils gespickt mit künstlerischen und wissenschaftlichen Interventionen.
Die Intention ist, sich nicht den historisch und gesellschaftlich vorgeprägten Sehgewohnheiten zu überlassen, bzw. sich der Prägungen bewusst zu werden. Das Zebra streifen, ein 1993 in Kassel unternommener, der Stadtwahrnehmung dienender Spaziergang, ist ein Beispiel. Der mitgeführte, transportable Zebrastreifen wird an verschiedenen Orten ausgerollt und schafft die Inseln, auf die sich die Fußgänger vor dem anströmenden Verkehr der Autostadt in Sicherheit bringen können.
Burckhardt definiert den Menschen als Störer, sowohl der städtischen wie der ländlichen Umwelt, und als ohne Bewusstsein für die Folgen seiner Eingriffe. „Planung und Spekulation spielen in der Stadt die Rolle von Blitzschlag und Überschwemmung im Urwald: Sie schaffen jene Brachflächen, auf denen sich für eine Zwischenperiode der Artenreichtum entfalten kann.
" Tatsächlich erweist sich die Stadt zunehmend als Biotop und Fluchtort von Tier- und Pflanzenarten, die durch die industrielle Agrarwirtschaft vom Lande vertrieben werden. Wir tun gut daran, sie gastfreundlich zu behandeln, denn, so fragt Burckhardt, wer kennt schon die Rolle der Arten, jeder einzelnen, im Prozess der Gleichgewichtsbildung, in den wir beständig eingreifen?
Ein Spaziergangsprojekt aus dem Jahr 1978 mit dem Titel Kann man die Natur sichtbar machen? offenbart welch kuriose, ganz sicher nicht geplante Ergebnisse, die menschlichen Eingriffe bewirken können. Am nordosthessischen Meißner hatte sich der Ort der größten Braunkohleentnahme, also eine gewaltige, zu heilende Landschaftswunde, mit Grundwasser gefüllt und bot mit seinen steilen Rändern und der wunderlichen Schutthaldenflora einen Anblick, den kein Landschaftsgärtner hätte toppen können.

Die Herausgeber dieses Bandes haben die elf spaziergangswissenschaftlichen, großenteils noch nicht veröffentlichten Texte Burckardts, angefangen mit dem sogenannten Urspaziergang in Riede, 1976, über Die Fahrt nach Tahiti in Kassel, 1987 und Das Reisebüro der Villa Medici in Rom, 1998,  jeweils mit einer Anzahl seiner landschaftstheoretischen Aquarelle kombiniert und ihnen eigene Texte, als Interpretationshilfen und Ermutigungen beigegeben. Diese, auf der 14. documenta gezeigten, wunderlichen Bilderrätsel, dienen der Visualisierung, der historisch gewordenen, von Literatur, Kunst bis hin zu Tourismuswerbungen beeinflussten, Wahrnehmungsmuster, die zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten stehen. Die Erhabenheit, in der Gestalt des Matterhorns verbildlicht, und der liebliche Ort, als Einheit von Rundtempel und Zypresse dargestellt, sind besonders prominent unter den diskutierten Mustern. Die zugehörigen Aquarelle zeigen eine Landschaft, in die zwei Engel mit dem schief zwischen sich gehaltenen Matterhorn schweben, noch nicht wissend, wie sie es tatsächlich platzieren sollen; das andere einen See, auf dem ein Dampfschiff mit Rundtempel und Zypresse im Schlepptau zu sehen ist. Bringt es den lieblichen Ort oder zieht es ihn aus dem Bild, weil die Motive unpassend und kitschig sind? 

Alle Texte und Aquarelle haben diese augenzwinkernde Komik. Dazu passt das dezidiert nicht Katastrophenhörige in Burckhardts zivilisationskritischem Denken: „Das System, das wir gegenwärtig als die Natur bezeichnen, enthält auch uns. Deshalb glaube ich auch nicht, dass wir in der Lage seien, die Natur zu zerstören – da überschätzen wir uns doch ein bisschen.“ (ak)

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Literatur in Berlin: www.literarisches-berlin.de  © 2008-2017 yuba edition / Brigitte Pross-Klappoth (Berlin)
 Stand: 17. Oktober 2017