Hrsg. von Andres Lepik und Simone Bader 
        
		 
        Lina Bo Bardi 100 
        Brasiliens alternativer Weg  
        in die Moderne
		
        Mit Texten von Renato Anelli, Vera Simone Bader, Anna Carboncini,  
        Gabriella Cianciolo Cosentino, Sabine von Fischer, Steffen Lehmann, 
        Andres Lepik,  
        Zeuler R.M. de A. Lima, Olivia de Oliveira, Catherine Veikos, Guilherme 
        Wisnik 
        
      
        
		Hatje Cantz Verlag, 2014 
        
		
         
        Die Casa de Vidro, das Gläserne Haus, war der erste 
        programmatische Bau, den die italienische Architektin, 1951, im 
        Stadtteil Morumbi, in São Paulo verwirklichte, nachdem sie zusammen mit 
        ihrem Ehemann Pietro Maria Bardi nach Brasilien umgesiedelt war. Das 
        schlichte gläserne Gebäude, das auf langen dünnen Betonpfeilern über der 
        umgebenden Landschaft ruht, sollte zeitlebens das Wohnhaus Lina Bo 
        Bardis bleiben. Später erhielt sie den Auftrag für den Bau des Museums 
        für Moderne Kunst in São Paulo (MASP). Beide, das Wohnhaus wie der 
        Museumsbau, waren der Moderne verpflichtet. Der brutale Kubus des MASP, 
        schwebt, mit roten Stahlträgern wie mit Klammern gehalten, über der 
        darunter entstandenen freien Fläche und sticht noch heute mit der Farbigkeit 
        der Träger und der „liegenden“ Gestalt des Baukörpers vom, durch das 
        helle Grau der Hochhäuser geprägten Stadtpanorama ab. Bo Bardis Idee 
        einer vegetabilen Textur für die Außenwände des MASP, die im Dialog mit 
        den Jahrhunderte alten Bäumen des nahe gelegenen Trianon Park stehen 
        sollte, konnte aus statischen Gründen nicht verwirklicht werden. In den 
        1960er Jahren standen solche Konzepte der Einbindung landschaftlicher 
        und vernakulärer Elemente in die Architektur allerdings noch in starkem 
        Widerspruch zu den internationalen Stilvorstellungen. 
        Die Verbindung von Natur und Architektur und die Empathie für den 
        lokalen kulturellen Kontext spielten schon bei der Planung des Gläsernen 
        Hauses eine Rolle, bei der die hoch wachsenden Bäume und Sträucher in 
        die architektonische Gestaltung einbezogen wurden. In den Projekten in 
        Salvador de Bahia, mit der ausgeprägten afrikanischen Kultur der „Region 
        Nordeste“ Brasiliens, erhielt Bo Bardi noch mehr Raum, ihr 
        eigenwilliges, seiner Zeit vorauseilendes Architekturverständnis zu 
        realisieren, zumal sie dort auf den Reichtum einer traditionellen und 
        lebendigen Kultur zurückgreifen konnte.  
        Das Operieren mit Gegensätzlichem und dessen Auflösung zeigt Lina Bo 
        Bardis enge Verbundenheit mit dem Surrealismus. In den Jahren der 
        brasilianischen Militärdiktatur schriebt sie: „In historisch schwierigen 
        Zeiten, in denen Strukturen zusammenbrechen, ist die Mystik die letzte 
        Möglichkeit, um die Menschheit vor Passivität zu bewahren.“ Ganz ähnlich 
        formulierte es der, mit Bo Bardi befreundete Regisseur des „Cinema 
        Novo“, Glauber Rocha, der in der Mystik die einzige Sprache sah, das 
        rationale Schema der Unterdrückung zu transzendieren. Wie der Regisseur 
        in seinen Filmen versuchte Lina Bo Bardi als Architektin eine Synthese 
        aus alter und avantgardistischer Kultur zu schaffen, eine hochgradig 
        originelle Vereinigung zwischen archaischer und moderner Welt. Es ging 
        ihr um den Erhalt der indigenen, amerikanischen und afrikanischen 
        Kulturen, weshalb sie sich von Beginn an mit Mario Andrades 
        Antropophagie-Bewegung identifizierte, die eine „Revolution gegen 
        das Künstliche, gegen das Unauthentische“ formulierten, wie  Olivia de 
        Oliveira in ihrem Essay zitiert. 
        Der Katalogband, der zur Ausstellung anlässlich Lina Bo Bardis 100stem 
        Geburtstag am 5. Dezember 2014 in der Pinakothek der Moderne in München 
        erschien, streicht in seinen zehn Essays vor allem die ausgeprägte 
        Vorreiterrolle Bo Bardis heraus, die Bedeutung des Vernakulären und die 
        besondere anthropologische und humanistische Qualität ihrer 
        Architekturprojekte.  
        Ihr gläsernes Wohnhaus, das heute das Instituto Lina Bo e P. M. Bardi 
        beherbergt, ist inmitten der Bäume luftig, durchsicht, klar, die Casa do 
        Chame-Chame, im Kontrast, von einer vertikalen Natur eingefasst und 
        spiralförmig, geradezu verschlungen, konzipiert. Hochabstrakte 
        Gestaltungsformen brechen vernakuläre Elemente und umgekehrt. Das 
        Kunstmuseum, die Casa do Benin will auf die kulturelle Beziehung Bahias 
        zu dem westafrikanischen Benin hinweisen, von wo die Menschen als 
        Sklaven nach Brasilien verschleppt wurden. In São Paulo transformierte 
        Bo Bardi eine leer stehende Ölfässerfabrik in eine gigantische, 
        zeitgemäße und soziale Freizeitstätte. Zwischen zwei hinzugefügten, 
        nüchternen Betontürmen, die Sporthallen beherbergen, sind so genannte 
        „Himmelsbrücken“ gezogen, die einen ständigen Wechsel von innen und 
        außen, Begegnungen im Hin- und Her und die Verbundenheit in einer 
        Gemeinschaft symbolisieren. 
        Neben den Essays lässt der Band, durch ein mannigfaltiges Material von 
        Skizzen, Designs, Designentwürfen, Plänen, Studien, Fotos von und mit 
        der Architektin und ältere Abbildungen 
        von Lina Bo Bardis Bauten im Spiegel aktueller Fotographien, das überaus kreative Leben einer nicht 
        einfach zuzuordnenden Künstlerin sichtbar werden.
        
		
        (bpk) 
         
        
		
        
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