Liao Yiwu
Die Wiedergeburt der Ameisen
Aus dem
Chinesischen von Karin Betz
S. Fischer Verlag, 2016
Unverkennbar ist Lao Wei, die Hauptfigur in Die Wiedergeburt der Ameisen vom Autor entlang seiner eigenen
Biographie entwickelt worden. Diese ganze Geschichte, alles begann, mit
einem Gedicht der blutgetränkten Worte, das der Autor als Aufschrei
angesichts der vielen Opfer bei der Niederschlagung der Tian’anmen-Demonstration
am 4. Juni 1989 verfasste.
Wie viele zeitgenössische chinesische Intellektuelle hat Lao Wei die
Tradition des I-Ging aufgenommen und in den Jahren seiner
Gefangenschaft im chinesischen Daba-Gebirge diese alte mystische Übung
zu einem wichtigen Begleiter gemacht. Eines Tages wird Lao Wei beim
Befragen des I-Ging von dem Orakel in seiner gesamten physischen
und geistigen Existenz durchdrungen und ist im Moment, trotz der ihn
umgebenden Mauern, frei, an jedem beliebigen Ort, zu jeder beliebigen
Zeit zu sein.
Er beginnt zu schreiben und dabei dient ihm sein Leben „als Orakel für
alle Geschichten, der Geschichte der Götter, der Chinesen, die der
Reptilien, des Drecks, des Sumpfs.“
Im Gefängnis, auf dem Rand der „Pritsche Nr. 11“ sitzend, verfasst
Lao Wei in ameisengleicher Miniaturschrift 200 Seiten und verbirgt das dünne,
fleckige Gefängnispapier unter dem Bett.
Liao Yiwu hat auf der Basis dieser versteckten Manuskriptseiten ein
fulminantes Epos entstehen lassen. Er schweift durch die alten
Kulturepochen Chinas, durch die Revolutionshistorie, durch die bizarren
Lebensepisoden vieler verfolgter Künstler. Als solch ein von der
Regierung Verfolgter, Überwachter, treibt es Lao Wei nach seiner
Haft-Zeit auf rastlosen, wirren Reisen durch die verschiedenen
chinesischen Provinzen: in ein Mahayana-Kloster auf dem heiligen
Berg Jizu, zu dem verfolgten und diskriminierten Turk-Volk der
Uiguren am Rand der Gobi-Wüste
mit ihren unheimlichen, vom Wind und der Bewegung der Dünen
verursachten Klängen oder zu kleinen, alten Völkern, wie in den
Ran-Bergen, wo das Leben stagniert „wie ein ruhendes Gewässer“ und
die Menschen einfach in der Natur leben, ohne dass der Arm der Partei
sie erreichte.
Die Episode in dem dreihundert Jahre alten Wohnhof der Familie Lao Weis,
in dem die Halle zur Verehrung der Ahnen noch der lichteste Ort ist und
sein Zusammentreffen mit Schamanen und dämonischen Hexen, kommt, in der
Art klassischer chinesischer Geistergeschichten, wunderschön spooky
daher. In fiebrigen Träumen vermischt sich die Welt der Toten mit
seinen verstörenden Verfolgungserfahrungen und sein Erleben kulminiert
in erotisierten Phantasmen mit bedrängenden Ahnen und den weiblichen
Roman-Figuren der großen chinesischen Kulturepochen, alle in Dessous
der Marke „Rote Flagge“ gekleidet.
Wie in seinem Buch, „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, für das
Liao Yiwu 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
erhielt, kommen die Figuren seines jetzt erschienenen Romans, Die
Wiederkehr der Ameisen, vom unteren Rand der Gesellschaft,
hingegebene Aktionskünstler, die versuchen alte Bäume zu retten, eine
etwas ausgeflippte Künstlerin, die ihr Leben durch Prostitution
verdient, ein Mädchenhändler, ein
Mönch, der mit Liao Yiwus Protagonist im gleichen Gefängnis inhaftiert
ist und ihn – nicht nur – das Spielen der Xiao-Flöte lehrt.
Stereotypen haben keinen Platz in desem großen Menschen-Karusell, das
der Autor in einer Sprache von berückender Intensität entwirft.
Karin Betz hat den Roman mit feinem Einfühlungsvermögen meisterlich
ins Deutsche transportiert.
(bpk)
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