Navid Kermani
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Hanser Verlag, 2011
Wenn man sich nicht darauf versteift, dieses Werk kategorisieren zu
wollen – ist es ein Roman, eine Autobiographie oder eine Art Tagebuch? –
dann erwartet den Leser eine, im privaten Ton verfasste Erzählung
alltäglichen Lebens, eine kriselnde Ehe, eine siebenjährige Tochter,
Anekdoten von der iranischen Familie, Kommentare zur aktuellen Politik
und Kultur, gespickt mit den brillanten Ausführungen eines
Feuilletonisten.
Kermani, der Erzähler, manchmal Ich-Erzähler, manchmal aus der
Perspektive des Ehemanns, Vaters oder Romanschreibers, offenbart eine
Vielzahl von Gesichtern. Manchmal derb und vulgär, wandelt er sich
Zeilen später zum tapsigen von der Ehe überforderter Vater, gibt sich
als planloser, ja fast dilettantischer Schreiber, um dann mit großem
Feingefühl in der Betrachtung eines Freundes oder Kollegen das
zerbrechlich Menschliche zu sehen, die individuelle Schönheit eines
Rocksängers, Komponisten, Arztes oder politischen Kämpfers.
Das Zerbrechliche, das die Figuren eint, ist nicht ihrer Persönlichkeit
oder den Verhältnissen zuzuschreiben, sondern der zeitlichen
Begrenztheit des Menschen und seines Schaffens, das keinen Bestand hat.
So wählt Kermani als Form den Nachruf, der aus seiner „Selberlebensbeschreibung“
auch ein Totenbuch macht. Man empfindet eine melancholische Rührung für
die zum großen Teil unbekannten Menschen und eine zweite Rührung oder
ein Lächeln, ob dieser Mühe, den Ausdruck ihrer selbst einem großen
Publikum bekannt zu machen.
Dieser Blick, der nicht selbstverständlich ist, sondern auf den Willen
des Betrachters, Schönheit sehen zu wollen, angewiesen ist, verwandelt
das Werk in ein Buch des Lebens.
Den Romanschreiber plagt die Hybris, die ganze Welt ausgerechnet aus
seinem Blickwinkel beschreiben zu können.
Für den Leser bieten sich dadurch reizvolle Einblicke in eine
Geisteswelt, in der sich die mystische Entrückung Hölderlins - „das
Werden und Vergehen“ - in einem persischen Derwischorden wieder findet
oder sich die Aufzeichnungen des Großvaters, die nicht enden wollenden
Schriften Jean Pauls und der eigene Roman zu einer philosophischen
Betrachtung über das Schreiben, das Sich-Schreiben und das durch den
Autor Sich-Schreibende verdichten.
Die 1200 Seiten, die eine gewaltige Kraftanstrengung des Autors
erfordert haben müssen, stellen den Leser vor eine fast gleichgroße
Aufgabe.
(hkl)
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