Carolin
Würfel
Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung
Wien 1968 –Berlin 1972
Hanser Berlin, 2019
Die traditionellen Frauen-Handwerke Kochen
und Weben zu Mitteln der Lebenskunst und der Befreiung aus dem grauen
Alltag umschaffen – was für eine Vorstellung? Ingrid Wiener gelingt
genau das. Die junge Frau, nach dem Urteil ihres Lehrers zu gutaussehend
für die weiterführende Schule, findet früh Kontakt zur Wiener Gruppe,
einer Vereinigung von österreichischen Schriftstellern, die in den 50er
und 60er Jahren von sich reden macht. Ihr gehören Männer wie Hans Carl
Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner oder Oswald Wiener an, der
später ihr Ehemann wird. Eine andere Lebenstechnik, die sie schon in
ihrer Jugend beherrscht, ist es, die Menschen zu finden, die ihrem
Lebenshunger Nahrung geben und zu ihrer emotionalen Verfassung passen.
Anders als vielleicht vermutet, findet eben sie die Männer, und nicht
umgekehrt, und – wie Carolin Würfel in zahllosen Interviews und
gemeinsam verbrachten Stunden mit ihrer Heldin herausfindet – ist
sie „die Frau die Abstand hält“.
Für Friedensreich Hundertwasser fertigt Ingrid Wiener ihre ersten
Wandteppiche, Auftragswerke, noch ohne eigene Autorenschaft. Später, in
Kanada, wird sie Alltägliches – Fotografien, Notizzettel, Einkaufslisten
– in ihre Gobelins hineinweben, Kunstwerke, die in internationalen
Galerien und Museen zu sehen sind. Der Weggang aus Wien, 1968, gleicht
einer Flucht. Mit Oswalt Wiener ist sie Teil eines Kunst-Happenings, das
als Uni-Ferkelei Schlagzeilen in der Boulevardpresse macht.
Nachdem nicht nur die Bürger verschreckt sind, sondern auch die Wiener
Polizei ermittelt, gehen sie ins Exil nach West-Berlin. Exil,
heißt auch ihr Lokal, das sie mit Wiener Freunden am Kreuzberger
Paul-Linke-Ufer eröffnen. In der in Fragen der Gastlichkeit so völlig
unambitionierten Stadt, legen sie mit dieser kunst- und Literatur
affinen Lokalität eine regelrechte gastronomische Performance hin.
Gefunden hat den besonderen Ort am Landwehrkanal der Freund und
Schankprinz Michel Würthle, sein Gravitationszentrum ist ‚Ossi‘
Wiener, zu dem sich die Markus Lüpertz, die Max Frisch oder Joseph Beuys
gerne setzen, aber das Herz der Unternehmung schlägt in der Küche,
wo Ingrid Wiener für den legendären Ruf des Lokals schafft.
Das Westberliner Exil der Wieners dauert gut fünfzehn Jahre. Danach
suchen sie sich im kanadischen Norden eine neue Herausforderung. In
Dawson City, der ehemaligen Goldgräberstadt am Yukon, machen die geübten
Gastronomen das Claims Café auf. Wie zuvor in West-Berlin werden
sie auch hier die weit und breit erste italienische Espressomaschine
aufstellen. In den zwei Sommermonaten verdienen sie ihren
Lebensunterhalt und während des langen Winters, wenn das Café sich in
ein Atelier verwandelt, entstehen Ingrids Gobelins, ihre Traumaquarelle
und Videoarbeiten. Es muss schön gewesen sein in dieser nördlichen
Einsamkeit. Sie leben dort bis 2013, etwa doppelt so lange wie in
West-Berlin. (ak)
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