Herder Handbuch
Herder Handbuch
Herausgegeben von
Stefan Greif, Marion Heinz und Heinrich Clairmont
Wilhelm Fink
Verlag, 2015
Johann
Gottfried Herder, der die Aufklärung, die kritische Vernunft seines
philosophischen Ziehvaters Emmanuel Kant, selbst einer Kritik
unterzieht, scheint mit seiner Philosophie des Individuums ein Vorläufer
der modernen Philosophie, von Hegel über Wittgenstein bis Heidegger und
der Focault´schen Diskursanalyse zugleich, zu sein. Und trotzdem pflegt
er eine mystisch-holistische Weltsicht, die so gar nicht zum heutigen
atheistischen Weltbild passen will. Immer dabei anzuecken und mit einem
untrüglichen Gespür ausgestattet entzieht er sich über die Zeiten
hinweg einer Einordnung in eine der gängigen Schulmeinungen.
Vielleicht
rührt daher der von den Herausgebern dieses Herder Kompendiums
attestierte Umstand, dass Herder von seinen Zeitgenossen verkannt, sogar
beschimpft und verlacht wurde und bis heute für sein umfassendes
interdisziplinäres Werk und seine Bahn brechenden Denkanstöße nicht
gebührlich gewürdigt wurde. Der vielfach begabte Gelehrte widersprach
der zeitüblichen Vergöttlichung des künstlerischen Genies und sah
gerade in der Bescheidenheit des Künstlers, im Zurücktreten hinter das
Geschaffene und in der Erkenntnis, dass alles Schöne sich erst durch
den Betrachter verwirklicht, das eigentliche ästhetische Ziel. Er
scheint darüber als Schöpfergeist schlicht vergessen worden zu sein.
Und so zeigt das „Herder Handbuch“ ihn als eine Größe der
deutschen Geisteswelt, die, aus den falschen Gründen hoch gehalten, oft
als „Vertreter eines tiefen Humanismus“ und als „unbekannter
Klassiker“ bezeichnet, in seiner wahrhaft revolutionären Sprengkraft
bis heute nicht wahrgenommen wird.
Am
Beispiel seiner Arbeiten zu Sprache, die von den Autoren als eine Art
Wegscheide für das europäische Sprachdenken der Moderne bezeichnet
werden, lässt sich ein Grundmuster seiner Reflexionen im Allgemeinen
veranschaulichen. Herder betrachtet Sprache, anders als die
objektivistischen Sprachtheorien um Descartes und Locke, die annehmen,
die linguistische Richtigkeit der Sprache würde sich bereits in den
Zeichen zeigen, aus einer inneren Perspektive, der des Individuums, des
Sprechers und Rezipienten und aus einer äußeren Perspektive, der des
sprachlichen Netzwerks. So würdigt er den lebendigen Aspekt von
Sprache, die zu gleichen Teilen vom Individuum getragen, genutzt,
gedeutet und verändert wird und die, da das Individuum das gesamte
Netzwerk der Sprache und seine unzähligen Einspeisungen nicht überschauen
kann, wiederum den Sprecher und Hörer von Sprache beeinflusst.
Die
wechselseitige Beeinflussung des Individuums und des ihn umgebenden
Systems lässt sich mit Herders Handbuch als einen maßgeblichen
Denkakt in seinem Schaffen bezeichnen. Hierin liegt auch die Kraft
seiner Kritik begründet, wenn er sich z.B. gegen die
chauvinistisch-kolonialistische Grundhaltung seiner Zeitgenossen
richtet: „Unsinnig-Stolz wäre die Anmaßung, daß die Bewohner aller
Weltteile Europäer sein müßten, um glücklich zu leben. (…) Da Glückseligkeit
ein innerer Zustand ist: So liegt das Maß und die Bestimmung nicht außerhalb
sondern innerhalb eines jeden Wesens.“
Die
Modernität, der hier dargestellten Position, bestätigt eine bereits in
der Einführung des Bandes aufgestellte These. Es ist diese
Aufgeschlossenheit und Fähigkeit zur Selbstreflexion, die sowohl
Grundlage des Schaffens Herders wie auch der Grund für seine Ablehnung
durch seine Zeitgenossen war und die verantwortlich dafür ist, dass
„die Originalität und Lebendigkeit Herders Denken seine Wirkung
vielleicht erst in unserer durch die Pluralität von Kulturen geprägten
Gegenwart entfalten“ kann. Spannend für unsere so genannte Moderne
ist dabei, dass Herder nicht einfach nur vor gut 250 Jahren eben das
gesagt hat, was heute Common-Sense ist, sondern, dass er neben seiner präzisen
Kritik, die auch vor der Religion nicht Halt gemacht hat, selbst mit
seinem Modell der menschlichen Seelenkräfte einen durchaus
metaphysischen Ansatz zur Erklärung der Welt und der menschlichen
Episteme vertritt, der in einer weitgehend materialistischen Welt wieder zu neuen
Denkansätzen herausfordert und das bestehende wie damals auch heute
hinterfragt.
In
den 40 Artikeln des Bandes die sich, der weit gefächerten
Schaffenskraft Herders entsprechend, auf die Themengebiete Philosophie,
Theologie, Ästhetik, Poetik, Literaturkritik, Pädagogik, Nachdichtung,
Poetisches Werk und Wirkung verteilen, nimmt sich das Autorenkollektiv
um die Herausgeber der Aufgabe an, den anderen Herder sichtbar zu
machen. (hkl)
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