Erich Mühsam
Tagebücher.
Band 1, 1910-1911
Verbrecher-Verlag, 2011
„Immer halb Flucht, halb Grenzüberschreitung“ – so beschreibt der
Herausgeber Chris Hirte das Leben des berühmten Anarchisten. Erich
Mühsam (1878-1934) selbst, Opfer der gesellschaftlichen und politischen
Verhältnisse und privat immer in Geldnot macht sich diese Zuschreibung
nicht zu eigen, kämpft vielmehr zeit seines Lebens gegen diese scheinbar
schicksalhafte Rollenzumutung an. Mit unerschütterlicher Beharrlichkeit
glaubte er an den Weltwandel, der den freien Menschen hervorbringen
sollte. Seinen Beitrag sah er in der Aufrüttelung der Massen, in der
Anstachelung zur Revolution und als seine
künstlerisch-schriftstellerischen Aufrufe keine revolutionäre
Breitenwirkung entfachten, wurde die kompromisslose Umsetzung der
anarchistischen Lebensutopie im eigenen Leben sein wichtigstes Ziel.
Das Tagebuchschreiben wurde dabei zum Akt der Selbstprüfung. Mühsams
Anspruch politisch in Augenhöhe mit den wilhelminischen Autoritäten zu
ringen, begründete sich aus eben dieser aufrichtigen Lebensweise, die
auch den offenen Umgang mit eigenen Lastern oder persönlichen
Ungereimtheiten einschließt.
Dieser erste Band berichtet im Plauderton von zahlreichen Liebschaften
und lässt, ohne vulgär zu werden, kein intimes Detail aus. Die
Auseinandersetzung mit der Familie, die sich sträubt den aus der Art
gefallenen Sohn finanziell zu unterstützen, die zahlreichen Freunde,
Kollegen, Künstler und Schmarotzer, mit denen er sich austauscht, von
denen er Geld leiht, das er wieder verleiht und die politischen Prozesse
gegen die Anarchisten zeichnen das Soziogramm einer verkrusteten
bürgerlichen Gesellschaft in der eine mehr oder minder gerichtete
Aufbruchstimmung Raum greift. Mühsams durch Leidenschaft und Gefühl
bestimmtes Handeln lässt ihn sich mit den Ausgestoßenen, den Armen, den
Prostituierten und den Verbrechern solidarisieren, und auch gegen alle
praktische Vernunft lebt er vor, was er gesellschaftlich zu erreichen
sucht. Ob unnachgiebig-prinzipientreu oder hedonistisch-ausgelassen,
Mühsam trachtet immer nach Freiheit.
Von 1910 bis zur Entlassung aus fünfeinhalb jähriger Haft 1924, die ihm
sein Engagement für die Münchener Räterepublik eingetragen hatte,
dokumentieren die Tagebücher in 42 Heften auf ca. 7000 Seiten sowohl die
Person, den Alltag, den Witz, die Selbstironie, den Feuereifer und die
Tragik des anarchistischen Vorkämpfers, als auch vierzehn Jahre
deutscher Politik im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Dieser erste der auf
fünfzehn Bände angelegten Gesamtedition der Tagebücher wird von der
Internet-Seite www.muehsam-tagebücher.de begleitet, auf der das
handschriftliche Original eingesehen werden kann und ein mit den Bänden
wachsendes Namensregister und eine Suchfunktion das gezielte
Durchforsten der Jahrhundertedition ermöglicht.
(hkl)
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