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Oswald Egger

Val di Non




Suhrkamp Verlag, 2017

Man könnte Eggers Val di Non eine Art Landschafts-Rap nennen, der in schnellem Wechsel wissenschaftlichen Ausdruck, Dialekt und Sprachwitz mischt, der aus akribischer Naturbeobachtung jäh in bodenloses seelisches Erleben stürzt, dessen großartige Dramaturgie unverhofft im Launischen oder Absurden endet. Wo immer es sich anbietet, schwappen die Dinge lautlich über, fließen ineinander, verwandeln sich, oder sie versiegen in einem abgebrochenen Satz wie ein trocken gefallenes Rinnsal.
Gehalten wird das Ganze durch die in allen Kapiteln und buchstäblich auf jeder Seite vorherrschende geologische Terminologie, die, mit Worten wie
Kalksteinknauern“, Lößkindel“ oder Feilenrunste", mit göpeln“, glanen“, schellern“ oder fuszeln“, eine sinnliche Suggestion entfaltet, als müsse sie dem gewaltigen Theater der erdgeschichtlichen Prozesse eine sprachliche Entsprechung schaffen. Selbst ohne genaue Kenntnis der Wortbedeutungen wird man geradezu körperlich in die Lektüre hineingezogen.
Das Bekenntnis des Ich-Erzählers, keinesfalls etwas Groteskes zu schildern, sondern das alles, was er erlebt habe, ihm
klar, eindeutig, wahr und naturgemäß“ erscheine, deutet an, dass im Leser daran Zweifel aufkommen könnten. Tatsächlich verhindert Egger mit der von ihm streng eingehaltenen Beobachterrolle ein Abrutschen in bloßes Chaos. Das trotzdem waltende Chaos ist, auch indem und wie es den Menschen ergreift, natürlich und vorgefunden, So führen Sätze wie „Zeitgleich aber griff die insektoide Umformung auf das ganze Zimmer, einschließlich meines Inneseins, über …“ oder der Vers „Da liegt / ein Birkenklotz, / den ich, bis / er blutet, / schlug“ nicht in kafkaeske Abgründe oder Horrorvisionen, sondern sind der seelische Beiklang der erlebten und erlittenen geologisch-biologischen Kontemplationen.
Ein drittes Gestaltungsmittel, neben Prosatexten und Versen, sind die Zeichnungen. Ihre Gegenstände sind sowohl mineralischer wie organischer Natur, oft vergrößert, wie mikroskopiert, meist mit wissenschaftlichem Gestus und in Zahl und Vielfalt ähnlich überbordend wie das Geschriebene. Gliederketten, Schlauch- und Röhrenförmiges, Helm-, Schnabel-, Mützen- oder Kelchartiges, Früchte, Knollen, Knöchelchen und Samenhülsen und dann, besonders zahlreich, rundlich-ovale, schwanzähnlich mit Fäden bestückte Formen, die an Kinderdrachen oder Kaulquappen erinnern und einen aus traurigen Augen anglotzen.
Es wäre verfehlt, die Botschaft dieses Buches auf einen Punkt bringen zu wollen. Aber ohne Zweifel schenkt es uns eine wundervolle Reise in Eggers Non-Ton-Tal, das sich, abgesehen davon, dass dort noch Nones, eine vermutlich rätoromanische Sprache, gesprochen wird, vielleicht nicht viel von anderen Tälern zwischen Bozen und Trient unterscheidet – außer diesem zärtlich-wilden-wissenschaftlichen Blick, mit dem es hier betrachtet wird. Der Autor selbst resümiert sein Buch  auf der letzten Seite lakonisch: „Zwölf interim offene Intervall-Kapitel, durchrätselt von 365 lautgewordenen Gedanken (in Form von Worten und in Formen ohne Worte)“.
(ak)  

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Literatur in Berlin: www.literarisches-berlin.de  © 2008-2017 yuba edition / Axel Klappoth (Berlin)
 Stand: 11. Juli 2017