Jacques Derrida
Das Tier und der Souverän I
Seminar 2001-2002
Passagen Verlag, 2015
Jacques Derrida beginnt das Seminar
La bête et le souverain mit den Worten „Wir werden es gleich zeigen“. In strukturalistischer Weise
und mit poetischer Einfühlung geht er den Worten auf ihren Grund. Wie auf „Wolfssohlen heranschleichend“ kündigt er das zu Sagende an, ohne dass es bereits da wäre – ein Gerücht, bloße Erwartung oder das Prickeln zwischen herbeisehnen und befürchten. Im französischen Original wird aus dem Idiom „auf Wolfspfoten“ (à pas de
loup) „kein Wolf“ (pas de loup) und schließlich „Es gibt keinen Wolf“
(il n´y a pas de loup). Die tierische Metapher beschreibt zugleich den Charakter des Stöberns, aus dem sich im Seminar die Philosophie Derridas vor dem Auditorium entfaltet,
wenn philosophische Schriften von Aristoteles, Platon und Plutarch über Rousseau, Heidegger und Lacan bis hin zu literarischen Zeugnissen wie Fabeln und Gedichten abgelaufen werden, die auch den wichtigen Begriff des Fremden, des Unbekannten oder des Unheimlichen als Grundmuster für Identifikation und Abgrenzung einführen.
„Warum werden die politische Souveränität, der Souverän oder der Staat oder das Volk bald als das figuriert, was sich, per Vernunftsgesetz über das Tier
[bête] über das natürliche Leben des Tieres [animal] erhebt, und bald, oder gleichzeitig, als Manifestation der menschlichen Bestialität oder Animalität, anders ausgedrückt der menschlichen Natürlichkeit?“
In der Behandlung des Gedichtes Snake des britischen Dichters D. H. Lawrence wird die ganze Bandbreite deutlich, die Derrida bei der philosophischen Betrachtung des Umgangs mit dem Bild des Tieres abdeckt, das mal als Bestie, mal als Vieh und mal als Tier bezeichnet wird. Da ist die „urmenschliche“ oder aber anerzogene Bereitschaft das wilde Tier zu töten und gleichzeitig die Reue das unberührte und ehrfurchtgebietende Natürliche zerstört zu haben. In diesen widerstreitenden Gefühlen sieht Derrida Moral und Ethik sich tatsächlich realisieren, die zuvor nur als wage Idee existierten. Da ist weiter das Bild von der Souveränität, der hohen menschlichen Herrschaft über das niedere Tier, das durch sein Gegenbild, das des edlen, königlichen Tieres, dessen Herrschaftsanspruch älter ist als der unsere, nicht widerlegt sondern lediglich gedreht wird. Der Bezug auf die biblische Schlange schließlich, die das Menschenpaar verführt und zur Vertreibung aus dem Paradies führte, findet sich in Derridas Interpretation des Gedichts ins
Gegenteil verkehrt. Es ist die Schlange, die bemitleidenswerte, die von ihrem königlichen Thron ins Exil verbannt, Verachtung, Anfeindung und Verleumdung erdulden muss.
Herrschaft, Souveränität, Macht, das Recht, auch das Recht zu Strafen und zu Töten und die Rolle des Anderen bei der Selbstvergewisserung sind die Schlagworte, die Derrida in der Bezugnahme auf das Tier untersucht, interpretiert, auseinandernimmt und dabei ihre diskursiven Wirkungsweisen entlarvt. Der Umgang mit dem Tier, der Bezug auf Tierbilder, das Tier in den „Kulturen, Nationen, Sprachen, Mythen, Fabeln, Phantasmen und Geschichten“, offenbart uns, so zeigt es Derrida, die Funktionsweise des Menschen.
Dies ist der erste Band eines gewaltigen Editionsvorhabens, das, in umgekehrter Reihenfolge, mit der letzten Vorlesung des Philosophen beginnend, das gesamte Oeuvre seiner 43 Studienjahre umfassenden Lehrtätigkeit sukzessive vorlegen wird. Es umfasst 14 000 Druckseiten, die, von ihm selbst handschriftlich, maschinell oder digital sorgfältig festgehalten, die einmalige Chance bieten, mit dem gesprochenen Wort des Philosophen in Kontakt zu kommen und den Entstehungsprozess seiner Philosophie
nachzuverfolgen.
(hkl)
Nächste Rezension
***
bestellen bei
|
|