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Alice Oswald
46 Minuten im Leben der Dämmerung
Gedichte
aus dem Englischen von Iain Galbraith und Melanie Walz
und mit einem Nachwort von Iain Galbraith
S. Fischer Verlag, 2018
Memorial
ist nach Oswalds Vorbemerkung „eine Ausgrabung aus der Ilias“, der es
nicht darum geht die Handlung des homerischen Epos sondern seine „grelle
unerträgliche Wirklichkeit“ wiederzugeben. Das Langgedicht gedenkt mehr
als zweihundert, eher weniger prominenten Kriegern des Trojanischen
Krieges. Auf knappe biografische Details folgt die verstörend-präzise
Schilderung der Art ihres Sterbens und dieser Totenklage schließt sich
ein gleichnishaftes Echo - ein Nachklang - an, in dem das individuelle
Elend als unausweichlich und schon immer so erscheint, „Wie ein Tropfen Feigensaft in Milch getan“ oder „Wie Spreu die beim
Dreschen umherfliegt“.
Diese Sprache, die sich zwischen der Erhabenheit klassischer Dichtung und
der Kälte von Pathologie-Berichten bewegt, euphorisiert und erschüttert
zugleich.
Der zweite Teil des Buches umfasst alle Gedichte aus Falling Awake,
dem 2016 erschienenen, sechsten Lyrikband Oswalds, dessen Titel, hier
nur sehr vorläufig, mit Fallen – Erwachen übersetzt wird. Wieder
gibt es die anatomischen Bestandsaufnahmen, wie „einen Blick auf den
blanken Servierteller des Brustbeins“ aus Schwänin oder „unterm
beinernen fenstersturz meines Blicks“ aus Blick Nach Unten –
beides Umkehrungen, im ersten Fall der Blick des Vogels zurück auf seine
verwesenden Überreste, im zweiten das Spiegelbild der wolkigen
Himmelslandschaft in einer Pfütze. Den Schluss des Bandes bildet das
grafisch, entlang einer Zeitleiste angeordnete, 33 Seiten lange Gedicht
Tithonos. 46 Minuten im Leben der Dämmerung. Einer Einführung
entnimmt man, dass sich die Morgenröte in Tithonos verliebte und Zeus
bat, ihn unsterblich zu machen, aber das sie zu bitten vergaß, ihn auch
nicht altern zu lassen.
Man würde die Dichterin, die es gewohnt ist, ihre Gedichte auswendig zu
rezitieren, gern beim Vortrag dieser Tragödie erleben, auch wie sie die
häufigen weißen Stellen spricht und die zwei ganz unbeschriebenen
mittleren Seiten.
In einem Zitat im Nachwort wünscht Oswald im Unterschied zum gewohnten
linearen Lesen von Romanen oder Artikeln: „... ich hingegen möchte, dass
die verschiedenen Teile meines Gedichts simultan wirken und im Schweigen
schweben.“ Und unmittelbar berühren, möchte man anfügen. Alice Oswald
ist studierte Altphilologin und Berufsgärtnerin. Beide Befassungen
hallen machtvoll in ihren Versen wieder.
(ak)
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