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Marina Abramović mit James Kaplan

Durch Mauern gehen  
Autobiografie  

Deutsch von Charlotte Breuer 
und Norbert Möllemann


Luchterhand Verlag, 2016

 

Ihre erste internationale Performance, Rhythm 10, 1973 in Edinburgh, die einem slawischen Trinkspiel nachgebildet war, kommt für Marina Abramović einem Initiationserlebnis gleich. In immer schnellerem Takt sticht sie nacheinander 10 Messer zwischen die Finger ihrer gespreizten Hand. Auf dem untergelegten weißen Papier mehren sich die Blutflecken. Zwei Tonbandgeräte geben den Takt vor, bzw. nehmen den Takt und das Aufstöhnen bei den Verletzungen auf und bilden dann den Takt für die nächste Runde. In der Überschreitung ihrer körperlichen Grenzen, findet sie das Medium, mit dem sie zukünftig arbeiten will. 1975 stellt sie in Kopenhagen die einstündige Arbeit Art Must Be Beautiful /Artist Must Be Beautiful vor, in der sie ihren Kopf mit Drahtbürste und Metallkamm bearbeitet und sich dabei Büschel von Haaren ausreist und das Gesicht zerkratzt. Sie hat dabei die bürgerliche Wohlfühlkunst im Auge, „denn ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Kunst verstörend sein muss, dass Kunst Fragen stellen und zukunftsweisend sein muss.“  
Die Anfänge in Belgrad hatten der Selbstbefreiung gedient, von den Eltern, verdienten Partisanen und Weggefährten des Marschall Tito, und von der Stadt und ihrem grauen sozialistischen Alltag. Eine Klanginstallation, die in Endlosschleife im Foyer des Studentischen Kulturzentrums ertönende Aufforderung an die Passagiere des Fluges nach New York, Bangkok, Honolulu, … ,sich zu ihrem Flugsteig zu begeben, zeichnet auf fast visionäre Weise das rastlose Reisen vor, das ihr Leben und ihre Arbeit bestimmen wird.
Relation in Space, 1976 in Venedig, erarbeitet sie gemeinsam mit Ulay, ihrem langjährigen Lebensgefährten. Beide sind nackt und laufen etwa eine Stunde lang, wiederholt und immer schneller werdend, aufeinander zu. Sich zunächst nur berührend, stoßen sie dann immer härter und gewaltsamer zusammen. Das Geräusch der aufeinander klatschenden Körper wird mit Mikrofonen verstärkt. Mit Breathing In, Breathing Out kehren sie 1977 zu den Anfängen Abramovićs, nach Belgrad, zurück. Die Nasen mit Zigarettenfiltern verstopft und die Lippen aufeinander gedrückt, atmen sie 19 Minuten lang aus dem Anderen ein und in den Anderen aus – bis an den Rand der Ohnmacht. Das Atmen und Japsen wird wieder durch Körpermikrofone verstärkt. Die Performance Gold Found by the Artists in Sydney, 1981, will mitteilen, was sie von den Aborigines bei ihrem Aufenthalt in der australischen Wüste gelernt haben; bewegungslos verharren, schweigen, nichts essen. Genau das praktizieren sie, einander gegenüber sitzend, 16 Tage jeweils sieben Stunden lang. Abramović hält im Tagebuch die unglaublichen Qualen fest, denen sie sich unterziehen und die völlige, gedankliche und energetische, Erschöpfung, die sie wie ein Tor in eine neue Art der Wahrnehmung führt. Schon in die Zeit der Trennung von Ulay und dem Ende ihres zweiköpfigen Wanderzirkus fällt Balkan Baroque. Während vier Tagen, schrubbt Abramović unter Weinen und dem Singen jugoslawischer Lieder jeweils sieben Stunden lang inmitten von Gestank, Maden und Verwesung blutige Rinderknochen. Für diese Schlachthaus- oder Schlachtfeldperformance erhält sie auf der Biennale in Venedig, 1997, als beste Künstlerin den Goldenen Löwen.

Noch vor der alle Aufmerksamkeit heischenden Nacktheit, den Selbstverletzungen oder den Ohnmacht und Schlimmeres riskierenden Erschöpfungsübungen, ist das Schweigen das wirkungsvollste Element in Marina Abramovićs Kunst. Als Krönung ihres Werkes erscheint vielen The Artist is Present, 2010 im Museum of Modern Art in New York. Dem täglich achtstündigen, bewegungslosen Sitzen, wiederum ohne Sprechen, Essen, Trinken und ohne jede Pause, ging eine einjährige diätetische Vorbereitung voraus. Mehr als 1500 Menschen saßen ihr während der drei Monate dauernden Performance gegenüber, manche nur wenige Augenblicke, andere mehrere Stunden.  
Die Schilderung der bis über die Schmerzgrenze hinaus vorangetriebenen Übungen lässt, wie schon bei ihrem Publikum, auch beim Leser dieser Autobiografie Verstörung zurück. Doch was zunächst als unerträglich empfunden wird, erweist sich bei genauerem Nachspüren als hoch konzentriert angeleitetes Gemeinschaftserlebnis. Eine Kunst zu schaffen, die aus Vertrauen, Verletzlichkeit und Verbindung entsteht, ist denn auch das Ziel, das Abramović für ihre Arbeit formuliert. 
Die Erfahrung von Schmerz und Verletzung als Zugang zu einem anderen Bewusstsein, einer erweiterten Wahrnehmung oder wie sie schreibt, „zu Beginn einer Performance muss ich immer erst durch eine Pforte gehen, hinter der Schmerz und Angst in etwas anderes verwandelt werden“, ist eine schamanische Praxis. Dazu mag passen, dass Abramović immer wieder bevorzugte Orte und Menschen aufsucht, um ihre physischen und mentalen Kräfte zu regenerieren, tibetische Klöster und Ayurveda-Zentren in Indien, Schamanen in Brasilien.
(ak)


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Literatur in Berlin: www.literarisches-berlin.de  © 2008-2017 yuba edition / Axel Klappoth (Berlin)
 Fotos © B.Pross-Klappoth (wenn nicht anders angegeben)
 Stand: 30. März 2017