Thomas Schölderle
Utopia und Utopie.
Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren
Begriff.
Nomos
Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011.
Thomas Morus erschuf zu Beginn des 16. Jahrhunderts die fiktive Insel
Utopia, und gab damit, der von Platon mit der Politeia initiierten
Tradition der Vision einer idealen Gesellschaft einen eigenen Begriff.
Seither steht Utopia und die Utopie für vieles: Der positiven
Konnotation von Utopia als idealem, fast paradiesischem Zustand des
Zusammenlebens, steht die Kritik entgegen, die in dem Begriff den
gedanklichen Vorläufer der großen totalitären Systeme des 20.
Jahrhunderts sieht. Im Volksmund schließlich wird das Utopische schlicht
als Synonym für das Unmögliche und Realitätsferne gebraucht.
Thomas Schölderle versucht in seiner Dissertation eine Begriffsklärung.
Morus ist für ihn der Kulminationspunkt, nicht nur als Wortschöpfer. In
seinem Utopia sind bereits die verschiedenen Facetten des Begriffs und
seine Ambivalenz angelegt.
Die Utopie wird bestimmt durch Vernunft und Rationalität. Angespornt
durch die Willkür und die Absurditäten der Herrschaft zu Lebzeiten des
Autors, ist Utopia ein Gegenentwurf, ein Kommentar, eine Kritik,
vielleicht sogar eine Satire auf die englische Gesellschaft zu Beginn
des 16. Jahrhunderts. In diesem Sinne sieht Schölderle die Utopie, als
Gedankenexperiment, das soziale Kritik äußert, als Triebfeder für
Umgestaltungsprozesse.
Wie bei Platon stehen bei Morus nicht das Individuum, sondern das
Kollektiv und seine Institutionen im Zentrum der Utopie, die deswegen
zur Inspiration für den Marxismus und die Vorstellung eines idealen
Kommunismus wurde. Das Ende der Utopien als Folge der Erfahrung von
Nationalsozialismus und Stalinismus zu postulieren, ist nach Schölderle
ein falscher Schluss. Bezieht man sich auf Morus, wie auch auf Platon,
geht die Utopie immer von einer freiwilligen persönlichen Partizipation
in einer konfliktfreien Gemeinschaft aus. Der Widersprüchlichkeit von
Vernunft, die auch zur kalten Rationalität einer Kriegspolitik verkommen
kann, ist sich der Autor bewusst. Entscheidend für ihn ist, Utopie nicht
als Programm oder Zustand der Vollendung, sondern als Prozess
kontinuierlicher Gedankenexperimente, gefolgt von gesellschaftlichen
Veränderungen und Verbesserungen zu begreifen. In diesem Sinne ist jeder
Totalitarismus falsch verstandene Utopie.
Das Fazit: die Öffnung von neuen Denk- und Vorstellungsräumen durch die
Utopie wirkt der Selbstgefälligkeit einer gesellschaftlichen Ordnung,
den abgeschobenen Verantwortlichkeiten und Konstruktionen von Realitäten
und Sachzwängen entgegen – eine Schlussfolgerung mit deutlichem
Aktualitätsbezug.
Die Abhandlung füllt gut 500 Seiten. Dem Kapitel über Thomas Morus und
die Utopia folgen ausführliche Übersichten über Utopiegeschichte von der
Antike bis heute und zur Utopie in den Sozialwissenschaften von Georg
Quabbe, über Ernst Bloch bis zu Karl R. Popper. Im letzten Kapitel
arbeitet der Autor die Kontinuität im Wandel des Utopiebegriffs heraus
und entwickelt mit Bezugnahme auf Thomas Morus eine eigene
Begriffsdefinition. (hkl)
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