Schreiben ein Leben lang.
Die Tagebücher des Victor Klemperer
Denise Rüttinger
Die Antwort auf die Frage nach dem literarischen Vermächtnis Klemperers
lautet: „Beobachten, Überleben, Bewahren. (…) In einem lebenslangen
autopoetischen Prozess versucht Klemperer als Schriftsteller,
Journalist, Wissenschaftler, Briefschreiber, Autobiograph und Diarist,
zumindest Teile seines „Dagewesenseins“ zu bewahren. Schreiben dient ihm
zur Existenzbewahrung.“ So jedenfalls sieht es Denise Rüttinger, die mit
ihrer Dissertation, die erste umfangreiche literaturwissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem autobiographischen Schreiben des jüdischen
Romanisten vorlegt.
Der Titel der Arbeit, der sich auf die posthum veröffentlichten und
verfilmten Tagebücher Klemperers bezieht, täuscht ein wenig, da es der
Autorin um eine Analyse des gesamten Corpus der von Klemperer
hinterlassenen Schriften inklusive der poetischen, journalistischen und
privaten Dokumente geht. In einem sehr aufschlussreichen Vorwort macht
sie ihren Anspruch deutlich, nicht einzelne Inhaltsstränge des Lebens
Klemperers aus seinen autobiographischen Schriften herauslösen zu
wollen. Vielmehr sieht sie in den verschiedenen Texten die
Selbstvergewisserung, den Versuch des Weiterlebens und das Beharrens
seiner Person in den, seine Existenz überdauernden, literarischen
Ausformungen seiner Persönlichkeit. Insbesondere während der
fürchterlichen Zeit des Nationalsozialismus, in der sein Leben an einem
seidenen Faden hing, schien Angst und Verzweiflung zu einer
existentiellen Notwenigkeit des Sich-Schreibens geführt zu haben, das
eine zusätzliche Gefährdung für sich und seine Freunde bedeutete, die
seine Schriften, Dokumentationen und Erinnerungen für ihn versteckten.
Die Struktur der Arbeit ergibt sich aus dem Ansatz, das gesamte
Schreiben Klemperers als ein einziges, miteinander vernetztes Werk zu
sehen. Seine Lebensumstände zu Zeiten des Kaiserreichs, der Weimarer
Republik, während des Nationalsozialismus und schließlich in der DDR
werden in den ersten Kapiteln der Leseerwartung des Publikums, der
Rezeption der verschiedenen Texte, gegenübergestellt. Unter den
folgenden Kapiteln erkennt Rüttinger in der philologischen Studie zur
Korrumpierung der Sprache im Dritten Reich, „LTI“, die 1947 auf
Grundlage der Tagebucheintragung veröffentlicht wurde, am deutlichsten
den Brückenschlag von privatem und öffentlichem Schreiben bei Klemperer.
Umfangreich, und akribisch recherchiert, bietet „Schreiben ein Leben
lang“ einen interessanten methodischen Ansatz zur Behandlung von
Autobiographien im Allgemeinen und entfaltet gleichzeitig übersichtlich
das Gesamtwerk Klemperers und das „wie“ und „warum“ seines
Zustandekommens.
Der 474 Seiten starke Band ist mit einem ausführlichen Quellen- und
Literaturverzeichnis ausgestattet.
(hkl)
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